2 Zimmer, 2 Tische
Margret Kreidl
Alltag siehe Werktag siehe Wochentag siehe Arbeitstag.
Auf meinem Küchentisch – das ist mein Arbeitstisch – steht eine weiße Obstschale mit Orangen, Äpfeln und ein paar Feigen.
Rhythmische Variation von runden, weichen Formen.
Die Dinge
zusammensetzen.
Die Dinge
dem Licht aussetzen.
Die Dinge
mit Licht erfüllen.
Nachtstücke,
Fruchtstücke, Küchenstücke. Gedeckte Tische.
Zufall oder
Komposition?
1
Ölgemälde auf Leinwand "Stilleben",
Totes
Geflügel, Schnepfen, Wildente,
Rahmen
schmal, gekehlt, 45:75 (1)
Komposition siehe Mischung siehe Musikstück.
Ich höre
die Geige.
Ich schmecke
die Feige.
Ich rieche
die Blumen.
Ich fühle
das Tuch.
1
Tischtuch, Leinen, lila Rosen.
1
Tischtuch, grün, am Rand weiße Streifen. (2)
Mein Küchentisch ist mein Lesetisch und mein Schreibtisch. Da schreibe ich mit der Hand. Im anderen Zimmer habe ich einen richtigen Schreibtisch, auf dem der Computer steht und der Drucker.
2 Zimmer, 2 Tische.
Der
Küchentisch steht vor zwei Fenstern. Ich kann ein Stück Himmel
sehen. Mein Nachbar schaut mir in die Küche – ich habe keine
Vorhänge – er winkt mir am Abend, wenn ich koche, zu.
1
Ochsenaugenpfanne
2
Bratpfannen
1
Fleischklopfer
1
Fleischbrett
1
Nockerlbrett
4
Schöpflöffel
3
Fleischgabeln
1
Tortenmesser
1
Tranchiermesser
1
Bröselmaschine
1
Grammelpresse
1
Kartoffelstosser
1
Gurkenhachel
2
Wagschüsseln (3)
Liste siehe Inventar siehe Kartei siehe Zettelkasten.
Eine
Geschichte zusammensetzen.
Eine
Geschichte ohne Anfang und Ende.
Eine
Geschichte mit weißen Seiten.
Ich kann mich nicht erinnern.
Geschichte siehe Vergangenheit siehe Vorleben siehe Lebenslauf.
Margarete Kreidl, geb. Gastager, 11. 7. 1939 Thalgau – 21. 4. 1972 Rottach-Eggern.
Ich erinnere
mich an unser altes Haus in Unterdorf.
Ich erinnere
mich an die Dachrinne.
Ich erinnere
mich an die Blechbadewanne.
1 Badewanne, groß, mit Badeofen (4)
Mama hat den
Mund voller Haarnadeln.
Papa riecht
nach Pitralon.
Wer liebt
die Kinder?
Was sieht
ein Blinder?
Wann blüht
der Flieder?
Wie viele
Zwiebeln?
Warum weint
Melusine?
Wie heißt
das Bild?
Wo bin ich
stehen geblieben?
Erinnerung siehe Andenken siehe Gedenken siehe Gedächtnis.
Margarethe Rainer, geb. Rauscher, 11. 7. 1886 Judenburg – 10. 12. 1944 Ravensbrück. (5)
Ich sitze am Schreibtisch und höre meine Großmutter am Küchentisch sagen: "Die Juden haben den Krieg angefangen."
Gegenwart siehe Anwesenheit siehe Teilnahme siehe Dabeisein.
LITERATUR
(1) – (4):
Ilsebill Barta-Fiedl, Herbert Posch, inventARISIERT. Enteignung von
Möbeln aus jüdischem Besitz, TURIA+KANT, Wien 2000.
(5): Maria
Cäsar, Heimo Halbrainer (Hrsg.), Die im Dunkeln sieht man doch.
Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Steiermark,
CLIO, Graz 2007.