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Erinnerung braucht Anker

Erinnerung braucht Anker

Am 30.11. wurde nicht nur ich geboren, sondern auch Christine Spieß. Doch als ich 1964 zur Welt kam, konnte die Grazerin ihren Geburtstag nicht feiern: sie war knapp 20 Jahre früher von den Nazis ermordet worden. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie 49 Jahre alt, also etwas älter als ich es heute bin.

Diese Verknüpfungen ihres und meines Lebens sind zufällig; aber wäre ich an einem anderen Tag geboren, beispielsweise dem 18.1., dann hätte ich mit Josefa Wilding, einer anderen ermordeten Widerstandskämpferin gemeinsam Geburtstag, und so wohl jeden Tag des Jahres.

Man mag die Verknüpfung für konstruiert halten, haben doch am gleichen Tag auch Komponist_innen, Schriftsteller_innen, andere Prominenz und viele ganz normale Menschen wie ich Geburtstag; nutzen kann man sie trotzdem, dafür nämlich, den Toten, nein: den Getöteten einen Platz im eigenen Leben einzuräumen. Das heißt gemeinhin Erinnerung und ist in diesem Fall eben nicht nur die an eine Person, sondern auch an ihr Leben und das, was ihrem Leben geraubt wurde. Aus diesen Überlegungen heraus kam mein Beitrag zum Projekt Alltag zustande.

Jedes Kind, das in Graz am Geburtstag einer Widerstandskämpferin auf die Welt kommt, erhält einen Brief. Der Brief wird stellvertrentend den Eltern übergeben, mit der Bitte, ihn an ihr Kind an einem passenden - beispielsweise dem 15. - Geburtstag zu übergeben.

Der Anspruch, jedes Kind in Graz zur Geburt mit einem Brief zu beschenken, war 2008 nicht erfüllbar.  Trotz der Hilfe einiger am Projekt Alltag Beteiligten gelang es mir nicht, der Namen und Adressen der Geburtstagskinder habhaft zu werden. Dies spricht zwar durchaus für den Datenschutz in Österreich, verhinderte aber leider die konkrete Umsetzung dieses Projektes.  In meinem Alltag fand sich nicht genug Zeit, an jedem der Geburtstage der ermordeten Frauen mit einem Stapel Briefe in der Hand an den Orten zu sein, an denen Kinder auf die Welt gebracht werden.

 

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